Zur Bedeutung der Bewusstseinsseele
Von Christina Moratschke
Diese Worte Francois Chengs charakterisieren die Seele in einfühlsamer und zugleich kräftiger Weise. Sie weisen auf die gegenwärtige Verfassung der Seele hin und reichen gleichzeitig weit in die Zukunft. Ein Verlangen nach Teilhabe am Leben liegt in jedem Menschen ebenso wie der Wunsch, zu verstehen wie Dinge funktionieren. Dies ist uns relativ geläufig. Weniger selbstverständlich ist es zu sehen, wodurch sich das Bestreben am Leben teilzunehmen, erfüllen kann. Offenbar findet die Begierde nicht in sich selbst die angestrebte Befriedigung, sondern erreicht diese in einem Transformationsprozess, der ins Offene führt. Ein gewaltiger Vorgang ist hier angesprochen, der alle Bereiche des Daseins ergreift, Einklang mit anderen Wesen herzu-stellen bemüht ist und in dessen Fortschreiten sich schliesslich alles in Sprache, alles in Sinn verwandelt. Man kann sehen, dass die Seele durch die Art und Weise, wie sie hier gezeichnet wird, ihre volle menschliche Würde erhält. Das hängt damit zusammen, dass das Wissen zwar als unverzichtbar gewertet wird, aber nicht die höchste Äusserungsform der Seele darstellt. Aus-gehend vom Wissenserwerb steigt die Seele erst zu den eigentlichen Orten der Menschlichkeit auf. Gleichzeitig wird man gewahr, dass man am Anfang dieses sinnstiftenden Prozesses steht und dass dieser in seinem weiteren Verlauf noch Formen anzunehmen vermag, deren schöpferische Radikalität man bestenfalls ahnt.
Eine ähnliche Sicht auf die Seele, wenn sie auch mit anderen Worten zum Ausdruck gebracht wird, findet man bei Rudolf Steiner. In seinem grundlegenden Werk „Theosophie“ unterscheidet er drei Stufen der Seele, die er als Empfindungsseele, Verstandes- und Gemütsseele sowie Bewusstseins-seele benennt. Er charakterisiert die Empfindungsseele als Träger eines Tätigkeitsquells, der den Sinneseindruck in ein inneres Erleben, eben die Empfindung, umwandelt. Das in der Aussenwelt Vorhandene offenbart im Innern des Menschen etwas von seiner Beschaffenheit. Was im Menschen selbst vorhanden ist, zeigt sich zunächst in gleicher Weise und so treten Bedürfnisse, Triebe und Leidenschaften der verschiedensten Art ebenfalls als Empfindung auf. Das Problem, dass sich viele Nöte und Bedürfnisse nicht in der gleichen Sphäre befriedigen lassen, in der sie entstanden sind, ist allgemein bekannt und gehört zu den grundlegenden Schwierigkeiten des menschlichen Lebens. Man ist dadurch genötigt, darüber nachzudenken, wie man diese Befrie-digung herbeiführen kann. Diese Form des Denkens führt dann auch zu einem Wissen darüber, wie die Dinge funktionieren. Dieses Wissen hat zwei Seiten, es versetzt den Menschen in die Lage, vieles in der Welt so zu gestalten, wie es ihm angenehm ist. In der Bequemlichkeit, die er sich so zu schaffen vermag, verliert er aber mehr und mehr die erquickende Teilnahme am unmittelbaren Leben. Er macht sich zum Herrscher über den Teil der Welt, den er sich unterzuordnen vermag und vereinsamt zugleich, indem er dieses tut. Den Teil der Seele, der das Denken in den Dienst der menschlichen Bedürfnisse stellt, der es also nicht schenkend sondern besitzergreifend verwendet, nennt Rudolf Steiner Verstandes- und Gemütsseele. Es gehört zu den Paradoxien des menschlichen Lebens, dass die Ausbildung derselben einerseits mit dem Erwerb wesentlicher Fähigkeiten zur Lebensbewältigung verbunden ist und andererseits mit einer gewissen Notwendigkeit in die Schwierigkeit hineinführt, die sich daraus ergibt, dass man das Denken, in den Dienst der leibgebundenen Bedürfnisse stellt. Dadurch kann es sich zunächst nicht so entfalten, wie es seiner Eigenart entspricht. Es lebt sich in einer Art Gegenbild seiner selbst aus, wodurch sich zwar die Möglichkeit ergibt, viele das Leben erleichternde Vorkehrungen zu treffen, wodurch aber zugleich ein umfassenderer Horizont, der nach der sinnhaften Perspektive des gesamten menschlichen Lebens fragt, verloren geht. Darauf deutet Francois Cheng auf seine Weise hin, wenn er von dem Verlangen nach einer gemeinsamen Anwesenheit spricht, in der alles Zeichen aussendet und einen Sinn annimmt. Man merkt sicher, dass diese Form des Verlangens in einer tieferen menschlichen Schicht begründet ist als das Verlangen nach der Befriedigung der Bedürfnisse, die man eben hat, weil man ein leibliches Wesen ist. Rudolf Steiner beschreibt diese tiefere Form des Verlangens als die Suche nach Wahrheit. Mit Francois Cheng gesprochen, könnte man dies vielleicht als das eigentliche Verlangen bezeichnen, welches sich von dem uneigentlichen abhebt. Ohne dieses Streben in den Blick zu nehmen, hat man die Seele nur in rudimentärer Form erfasst. Rudolf Steiner nimmt darauf folgendermassen Bezug: „Indem der Mensch das selbständige Wahre und Gute in seinem Innern aufleben lässt, erhebt er sich über die blosse Empfindungsseele. Der ewige Geist scheint in diese hinein. Ein Licht geht in ihr auf, das unvergänglich ist. Sofern die Seele in diesem Lichte lebt, ist sie eines Ewigen teilhaftig. Sie verbindet mit ihm ihr eigenes Dasein. Was die Seele als Wahres und Gutes in sich trägt, ist unsterblich in ihr. – Das, was in der Seele als Ewiges aufleuchtet, sei hier Bewusstseinsseele genannt.“ Diese Worte laden zu einer genaueren Betrachtung ein: Das Wahre und Gute hat eine selbständige Bedeutung und erhält diese nicht durch den denkenden Menschen zugesprochen. Im Gegenteil, der Mensch gibt sich in einer gewissen Selbstlosigkeit hin und bildet so einen Bewusstseinsraum, den er nicht durch eigene Willkür ausfüllt. Er stellt ihn sozusagen dem Wahren und Guten zur Verfügung, sodass es darin aufleben kann. Indem er so von sich selbst absieht, wird er über sich selbst hinausgehoben. Dies wird in einer doppelten Beschreibung angedeutet: Einerseits scheint der ewige Geist in die Seele hinein, er wirkt so von aussen nach innen. Andererseits geht in der Seele selbst ein unvergängliches Licht auf, was einer Innengestaltung, einer Bildung eines neuen Inhaltes in ihr entspricht. Dieser Inhalt ist eben Licht und vermag daher die Seele in sich leben zu lassen. Hier ist doch offenbar die Erfahrung einer Durchlässigkeit angedeutet, die sich aus der Verbindung mit einem über den Menschen Hinausreichenden ergibt. Oder, wie Francois Cheng es sagt: Im Einklang mit anderen Leben stehendes offenes Leben in einer gemeinsamen Anwesenheit. Hier ist nicht genau festgelegt, mit wem der Einklang und die gemeinsame Anwesenheit gesucht wird. Man könnte davon ausgehen, dass das Urbild der Gemeinsamkeit in der von Rudolf Steiner beschriebenen Erfahrung, die die Seele mit dem Licht machen kann, anwesend ist und von dort aus die Gemeinschaft, die sich zwischen Menschen ergeben kann, impulsiert. Als Folge dieser Erfahrung ergibt sich dann die weitere, dass alles Zeichen aussendet, alles einen Sinn annimmt. Unter dem Begriff „Zeichen“ muss man hier nichts Mysteriöses verstehen. Es könnte bedeuten, dass die vom Menschen gesuchte Ausweitung der Erfahrung von Gemeinsamkeit über den menschlichen Bereich hinaus von allem, dem man begegnet, bestätigt und zugelassen wird. Dann nimmt eben alles einen Sinn an.
Diese Grunderfahrung, die die menschliche Seele in ihre Würde erhebt, kann in allen Bereichen des Lebens, des Handelns, der Wissenschaft und der Kunst ihre Auswirkungen zeitigen. Ihr treu zu bleiben, stellt eine nicht geringe Herausforderung dar, denn sie ruft dazu auf, alle Bereiche der Erfahrung über deren Verwertbarkeit hinaus in eine höhere Sphäre umzuwandeln, in der sie sprechend wird. Es ist offensichtlich, dass die Menschheit am Anfang dieser Entwicklung steht. So rufen z. B. die Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaften dazu auf, ihnen in einer Art von künst-lerischem Durchdringungsprozess neue Bedeutungsschichten abzuringen. Wie alle Fortschritte in der menschlichen Entwicklung, so ist auch dieser Vorgang Gewinn und Verlust gleichzeitig. Man gewinnt die Offenheit des Austausches, den Einblick in sinnhaltige Vorgänge und man verliert zugleich die Möglichkeit, einen Sachverhalt oder Vorgang vollständig zu überschauen. An einem komplexen sinnhaften Geflecht kann man Anteil nehmen, überschauen kann man vielleicht einen willkürlich herausgegriffenen Teilaspekt, den man entsprechend begrenzt. Hebt man diese Begrenzung auf, so wird der Versuch der Überschau sinnlos, während das sich Bescheiden auf die Anteilnahme zur sinnstiftenden Gestaltung führen kann. Dass der Übergang der einen Bewusst-seinsverfassung in die andere Schwierigkeiten bereitet und dass man häufig Vermischungen antrifft, ist selbstverständlich. Dennoch kann der Versuch, das bewusstseinsseelische Neuland zu betreten, ein leitender Aspekt in der Forschung und Darstellung sein.